09.06.2008

Infoseiten Anti-Anthroposophie?

Veröffentlicht im „Europäer“, Juli 2008. Das „Goetheanum“ lehnte eine Veröffentlichung ab und brachte aufgrund meiner und einiger anderer Zuschriften stattdessen eine redaktionelle Spalte. Siehe dazu meinen >> „Offenen Brief“ und den Aufsatz „Das Goetheanum – die zensierte Wochenschrift oder: Vom erfolgreichen Abtöten der realen Anthroposophie“.

>> Langfassung.


„Infoseiten anthroposophie, aus dem info3-verlag, Sommer 2008“ – im Vorwort des 16-seitigen, offenbar werbefinanzierten Heftchens wird mit einer Auflage von 65.000 Exemplaren als Beilage „in nahezu allen wichtigen anthroposophischen Zeitschriften“ und „in ca. 500 Arztpraxen“ geworben. Was erfahren die vielen Leser aber nun über die Anthroposophie? Nichts! Die teilweise ganzseitigen Werbungen für anthroposophische Verlage, Weleda usw. umrahmen letztlich nur einige Druckseiten mit „Anmerkungen eines Sympathisanten über sein Verhältnis zu Rudolf Steiner und zur Anthroposophie heute“... 

Der Filmemacher Rüdiger Sünner, dessen Film über Rudolf Steiner jüngst vielerorts aufgeführt wurde, wurde gebeten, seinen Blick auf „unsere Szene“ (Vorspann info3) zu schildern.

Zunächst schildert er, wie er verwundert und verärgert die Steiner-Rezeption der letzten Jahre miterlebte, die einseitig auf Fragen wie Rassismus und Antisemitismus ausgerichtet war und das Esoterische vorwiegend negativ beurteilt. Er fährt dann fort:

„Ich selbst halte (...) Esoterik für eine alternative Denkform, in der Themen wie (...) das Denken in Analogien, Symbolen, Imaginationen und Ähnliches behandelt werden. Für den Fall, dass dabei das rationale Denken eingeschaltet bleibt und man bestimmte Mythenbildungen auch kritisch reflektiert, sehe ich in einer solchen Denkform keine grundsätzliche Gefahr. (...) Könnte man nicht einen Film [über Steiner] machen, so dachte ich, der neben berechtigter Kritik an manchen seiner Standpunkte auch das Erstaunliche, Anregende und Faszinierende seiner Weltsicht herausarbeitet? Und zwar in einer anschaulichen Sprache, die dem Zuschauer über Bilder, Musik und Texte wenigstens ansatzweise eine Brücke zu dem baut, was Steiner die „geistige Welt“ nennt?"

Für Sünner scheint Esoterik in einer voll ausgebildeten Tätigkeit der rechten Gehirnhälfte zu bestehen („Denken in Analogien, Symbolen...“), die durch die „eingeschaltete“ rationale Gehirnhälfte kritisch begleitet werden muss – dann besteht (zumindest grundsätzlich) keine Gefahr. Sünner ist ein Beispiel für unzählige Menschen, die sich anmaßen, über Rudolf Steiner, sein Denken, seine Denkart, sein Lebenswerk usw. sprechen und urteilen zu können – in einem Hochmut, der darauf hinausläuft, dies alles auf ihr momentanes Verständnis- und Geist-Niveau herunterzuziehen – und es für den Zuschauer sogar noch „anschaulicher“ zu machen...

„Ich dachte, dieser Steiner war gar nicht so sperrig (...) Denn sein Lebensgang erzählt auch von einem Wanderer, Abenteurer, Bohemien, Dichter, Naturforscher, einem Liebhaber von Luft, Licht, Farbe und Musik (...) Und auch wenn jetzt einzelne zweihundertprozentige Steiner‑Anhänger meinen Film dafür kritisieren („Anthroposophie als Gefühlsangelegenheit“), so glaube ich, damit dennoch das Richtige getan zu haben.“

Sünners eigener Glaube ist ihm unbenommen. Doch worum geht es bei der Anthroposophie? Etwa darum, sie den Menschen möglichst sympathisch zu machen, indem man im heutigen Genuss-Zeitalter betont, Steiner sei eben auch „Abenteurer, Bohemien“ usw. gewesen? Anthroposophie lebt einzig und allein aus der Quelle eines reinen Denkens heraus. Wo dies nicht gegeben ist, kann man sich eigensüchtig von ihren Früchten ernähren, aber an ihr Wesen rührt man nicht einmal. Sünner arbeitet kräftig an der Zerstörung dieser klaren Erkenntnis, wenn er die Kritik an seinem Film und seiner Sichtweise „einzelnen zweihundertprozentigen Steiner-Anhängern“ zuschreibt.


Nachdem Sünner dann trotz seiner anfänglichen Worte ebenfalls ins Horn „diskriminierende Äußerungen bei Steiner“ stößt, fährt er fort:

„Darüber hinaus aber gibt es vieles bei Steiner, das bis heute faszinierend und anregend bleibt. Seine Werke liefern große Bilder, die zu neuen Denkwegen stimulieren, sie sind für mich oft aufregende Seereisen zu Häfen, die noch gar nicht gebaut sind. Die anthroposophische Bewegung scheint mir immer dann stark zu sein, wenn sie eine solch‘ offene Betrachtungsweise zulassen kann. Wenn ihre verschiedensten Mitglieder diese mehrdeutigen Textlabyrinthe lustvoll-anarchisch durchwandern und sich dann zu Gedanken und Taten inspirieren lassen, die etwas Neues in unsere oft genormte Welt bringen.“

Sünner fühlt sich bemüßigt, Steiner zu verteidigen, und verkündet den genussvollen, einfachen Zugang zu seinem Werk: Man möge es lustvoll durchwandern und sich nebenbei inspirieren lassen. Wie aber, wenn die „großen Bilder“, die Steiner gegeben hat, von Grund auf verstanden werden wollen und das Neue, wirklich Zukunftweisende vorher gar nicht in die Welt kommen kann?

„Für mich ist Anthroposophie keine Wissenschaft und sie sollte diesen Anspruch auch nicht so trotzig vor sich hertragen. (...) Es kann vorkommen, dass einzelne Intuitionen Steiners von der Wissenschaft bestätigt werden, aber warum muss deshalb sein gesamtes Denken wissenschaftlich sein? (...) Für mich ist Steiner in erster Linie ein Anreger, der aus der Tiefe der Mythen und aus dem spekulativen Schwung des philosophischen Denkens schöpft.“

Hier wird das fehlende Verständnis oder vielleicht besser gesagt Verstehen-Wollen ganz offenbar. Sünner hat keine Vorstellung, was das Wesen von Geistes-Wissenschaft ist: Sie beginnt mit seelischer Beobachtung nach naturwissenschaftlicher Methode und entdeckt dann tatsächlich ganze Meere, wo Häfen noch nicht gebaut sind... – Es ist völlig klar, dass Anthroposophen, die die Erkenntnisse Steiners für sich beanspruchen und Andere „missionieren“ wollen, jeden Außenstehenden abschrecken. Doch es ist der Grundfehler aller Kritiker, das Kind mit dem Bade auszuschütten und Rudolf Steiner selbst abzusprechen, er habe seine Erkenntnisse auf vollkommen (d.h. streng) wissenschaftlichem Wege gewonnen. Die einzigen zwei Gründe, dies tun zu können, sind wirkliches Unverständnis und/oder persönlicher Hochmut (Nicht-Anerkennen-Können, „geistiger Sozialismus“).

Die Frage bleibt: Was soll ein solcher Beitrag in sogenannten „infoseiten anthroposophie“, die in Hunderten von Arztpraxen ausliegen und das Bild unzähliger Menschen von der Anthroposophie prägen werden?